Iris von Carnap
„Muße ist der schönste Besitz von allen.“
Sokrates¹
„Wasserland“ hat Iris von Carnap ihre Werkreihe benannt, gleichsam eine eigene Welt kreierend, die nah am Wasser gebaut ist und dennoch fest verankert erscheint, basiert sie doch auf der Erkenntnis, dass Muße die Quelle eines glücklichen Lebens darstellt. Entsprechend still ist es in den Werken der Künstlerin, kein Zuviel stört den Augenblick, den sie verweilen lässt auf der Leinwand. Als sei ein Moment dem Zeitfluss enthoben worden, als habe die Künstlerin den Ablauf des Lebens unterbrochen, verharren die Protagonisten im Innehalten. Ihre Tätigkeit ist nicht spektakulär, nicht aufmerksamkeitsheischend, vielmehr nachgeradezu banal: Iris von Carnaps Figuren huldigen dem Liegen, dem Stehen, dem Schwimmen, dem Gehen, dem Träumen, dem Sehen. Ihr Nichtstun ist jedoch nur ein scheinbares: Im Pausieren von der Welt, in der „récréation“, entspannen sie nicht nur, sondern erschaffen sich im Wortsinne neu.
Die Personnages der Künstlerin sind der heute vorherrschenden permanenten Betriebsamkeit diametral entgegengesetzt – nicht nur in ihrem Verhalten wirken sie wie aus unserer Gegenwart gefallen, auch optisch scheinen sie vergangene Zeiten herauf zu beschwören. Behutsam gestaltet Iris von Carnap die Körper ihrer Figuren in feinmalerischer Meisterschaft, moduliert in Abstufungen von Grau, Schwarz und Weiß. Sie lässt Miniaturen von Persönlichkeiten entstehen, deren detailgetreue Wiedergabe eine anrührende Haptik hervorruft, die mit dem nahezu abstrakten Hintergründen wirkungsvoll kontrastiert: Erst die Protagonisten verleihen diesem Raum, lassen ein angeschnittenes Eck zu einem Swimmingpool werden, schilfgrünes Nichts zu einem Meer und unbehandelte Leinwand zu Sand. Justament das Tun der Bewohner in der Welt der Künstlerin formt monochromes Blaugrün zu einer realen Landschaft. Das Rot, mit welchem Iris von Carnap jedes Bild unterlegt, bricht sich jedoch stets Raum im Bild, aufzeigend, dass die Wasserlandschaften nicht tatsächlich in unserer Realität verortbar sind.
Die Künstlerin erschafft mit ihrem OEuvre somit eine eigene Wirklichkeit, die von der Sehnsucht nach einer Welt geprägt ist, in welcher der Muße unbehelligt gehuldigt werden kann, eine Welt, die in realiter niemals existent war, aber in der Verklärung nostalgischer schwarz-weiß Aufnahmen aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts zumindest möglich schien. Zeitversetzt präsentiert Iris von Carnap ihre Figuren, als habe sie selbige einem Filmstill aus der Frühzeit der Cinematographie² entnommen und in unsere Gegenwart transferiert. Obgleich ihre Persönlichkeiten schwarz-weiß wiedergegeben sind, quasi als Zitat der Zeit, der sie zu entstammen scheinen, sind doch sie es, die Farbigkeit in unsere Welt bringen, da sie all das verkörpern, was es dazu braucht – den Moment zu leben, der jetzt gerade stattfindet, und sich ihm mit allen Sinnen hinzugeben, denn: „Über dem Aufschieben schwindet das Leben dahin, und so mancher von uns stirbt, ohne sich jemals Muse gegönnt zu haben.“³
Dr. Sonja Lechner M.A
Kunsthistorikerin
1 Zit. nach Klaus Bartels: Veni, vidi, vici. Geflügelte Worte aus dem Griechischen und Lateinischen. München 1992.
2 Iris von Carnap würdigt der Filmkunst überdies dergestalt, dass sie in Manier Alfred Hitchcocks auch gelegentlich ihren eigenen bildlichen Szenen beiwohnt.
3 Epikur von Samos, zit. nach: Klaus Bartels: Veni, vidi, vici. Geflügelte Worte aus dem Griechischen und Lateinischen. München 1992.
Iris von Carnap – Sublime at Second Sight
Auf den ersten Blick scheinen dem Betrachter, die I.v.Cs Werke von einem rein lyrischen Ton getragen zu sein. Bilder, welche in fast zu verführerischen Harmonie, das Auge verzaubern. Zarte Pastelltöne irisieren über die Leinwand, elegante an Alfons Mucha mahnende Umrisszeichnungen von Silhouetten und Cut-Outs von Figuren aus längst vergilbten Postkarten: Spaziergänger, Badende und Liebespaare eines vergangenen Jahrhunderts. Sie zeigt sich mit ihrem Temperament damit als Schwester im Geiste von Malern wie Giorgio de Chirico oder auch gewisser Bilder von Odil Redon. Hinter dem scheinbaren Lyrizismus verbirgt sich jedoch mehr: Ein unaussprechliches Enigma.
Das erste Missverständnis über die Bilder von IvC sollte man gleich am Anfang ausräumen, nämlich dass es sich um eine Kombination aus Abstraktion und Gegenständlichkeit handele. Wenn dies der Fall wäre, dann würde sich lediglich um einen malerischen Taschenspielertrick handeln, der nach dem erstem Aha-Erlebnis schnell seine Wirkung verlieren würde.
Aber das Gegenteil ist der Fall. Die grossen Farbflächen formieren sich zu Räumen – die von Licht und den übrigen Elementen wie Luft und Regen erfüllt werden. Auch wenn die Farbwerte, Tupfer und Pinselstriche als solche erlebt werden können, handelt es sich um Landschaften, so wie uns das heutiges Wissen über die Welt gelehrt hat. Das Bild der Natur ist amorph und keine Postkarte. Die Welt, der Kosmos ist der irre Tanz aus Atomen, Energien, Explosionen, Implosionen, Wellen und Teilchen, Zufall und dem Rausch des Lichtes.
Hier kommen wir nun zu den kleinen bzw. mit Kohle angedeuteten Figuren. Unser erster Impuls als Betrachter und als soziales Lebewesen Homo Sapiens lässt uns vermuten, das sich hier der Schlüssel für die Gemälde findet.
Doch ihre Verwendung spricht eine andere Sprache. All diese Figuren scheinen vielmehr die Funktion von Maßstäben zu haben, so wie man sie in graphischen Darstellungen von Pyramiden und anderen Bauwerken findet. Die vereinzelten Figuren sind weniger Bedeutsam in ihrer Konkretisierung als 2 Männer, Mann mit Regenschirm oder Badende sondern sie evozieren in dem Betrachter einen Sense of Scale. Dies realisiert IvC entweder durch die Postkarten Cut-Outs oder durch die Andeutung der Figuren durch die Umrisszeichnungen. Sie bilden die Rahmen, durch die das kosmische Wirken der Elemente erst erlebbar wird.
IvC gelingt auf diese Weise mit ihren Werken eine neue Interpretation des Sublimen und des Schönen, wie sie Edmund Burke in seiner Philosophical Enquiry into the Origin of our Ideas of the Sublime and Beautiful 1757 als Erster angestossen hatte.
Hier befindet sie sich ganz in der Tradition der Künstler des Erhabenen, wie D.C. Friedrich oder Thomas Cole.
München, 31 Juli, Siegmar Warnecke
„Kunst ist für mich ein Weg, um dem Leben näher zu kommen, vielleicht sogar, um zu ihm zurückzukehren.“
Igor Sacharow-Ross¹
„Allein der Muße hingegeben sind diejenigen,
die für die Weisheit Zeit haben, sie nur zu leben.“
Seneca²
Muße zu haben, sich gänzlich dem Moment hingeben zu können, ihn als Augenblick, der einzigartig ist, wahrzunehmen, schien bereits Philosophen der Antike Basis eines glücklichen Lebens zu sein.³ Nicht das spektakuläre Ereignis, das Außergewöhnliche, die Sensation sollte die eigene Aufmerksamkeit bannen, sondern vor allem das Dazwischen, das Banale, in dem scheinbar nichts passiert. Iris von Carnap verbildlicht diesen Gedanken, gibt dem leicht zu Übersehendem eine Form, indem sie es festhält: das Geschehen am Rande. Das Liegen, das Gehen, das Träumen, das Sehen, das Springen, das Stehen werden bildwürdig im malerischen Stillstand, im Verweilen auf der Leinwand. Singulär erscheinen ihre Protagonisten zumeist, auf sich alleine gestellt, bei sich seiend – selbst in Gesellschaft garantiert das Abgewandtsein des Einzelnen, dass ein jeder in seinem eigenen Moment bleibt.
Zwei unterschiedliche Modi der Annäherung nutzt Iris von Carnap, um ein und denselben Gedanken auszudrücken, den Gedanken des Stillstandes, in welchem ein Augenblick aus dem Zeitfluss herausgehoben und konserviert wird, ihm die Achtung gebend, die er verdient. In der Werkreihe „Fahrtwind“ verschmilzt die Künstlerin abstrakte und figurative Malerei: Auf dem rohen, nicht grundierten Bildgrund, der den Stoff haptisch erhält, lässt sie filigrane Farbgespinste ebenso skizzenhafter wie
anrührender Fragilität entstehen, die zunächst abstrakt anmuten, jedoch durch das Auftreten des Protagonisten Räumlichkeit erhalten. Als Kohlezeichnung fügt die Künstlerin den Menschen seiner Umgebung ein, ein Umriss nur, lediglich konturiert in zarter Schönheit sicheren Strichs, seine Binnenstruktur aus dem Hintergrund speisend. Dieser haucht ihm Leben ein, dynamisiert die Darstellung zu einem Geschehnis, das den Menschen in einem Realraum verortet, der sich im Blick des Betrachters aus dem Abstrakten bildet. Iris von Carnap gestaltet diesen Raum als „Tanz aus Atomen, Energien, Explosionen, Implosionen, Wellen und Teilchen, Zufall und dem Rausch des Lichtes“⁴, ein Tanz, der „still alive“ ist, aber im Angehaltensein des dargestellten Momentes zum Stillstand kommt. Das Lebendige bleibt jedoch stets impliziert, aus ihm wächst der nächste Moment heran, der abbildungswürdig sein wird für die „subtilen Traumtänzer auf abstraktem Seil.⁵
Auch in der Werkreihe „Wasserland“ verschmilzt Iris von Carnap meisterlich zwei Malweisen, diesmal bilden monochrome blaugrüne Töne ihre Hintergründe, die stets mit Rot unterlegt sind, das sich Bahn bricht im Bildraum. Wiederum erhält der abstrakte Hintergrund erst durch die Zunahme der Figur räumliche Funktion, formiert sich zur realen Landschaft, zu Meer, Strand oder Pool. Obgleich „Wasser“ das verbindende Thema der Darstellungen ist, sind doch die Geschichten, die sie verbildlichen, einzigartig, der Individualität der Protagonisten entsprechend. In Abstufungen von Grau, Schwarz und Weiß als feinmalerische Miniaturen berührender Zerbrechlichkeit gestaltet, verschmilzt deren Monochromität mit den jeweiligen Farbtönen des Hintergrundes: Als sei ein Film aus der Frühzeit der Cinematographie angehalten worden, als blicke der Betrachter durch eine farbige Linse auf ein Filmstill der 20er Jahre, heben sich die realistischen Figuren vor dem unscharfen Hintergrund ab, ihn gleichwohl erst durch ihre Präsenz zum Realraum erhebend. Allein ist der Mensch in seiner Umgebung, gemeinsam einsam bleiben auch die Paare. Doch ist diese Einsamkeit eine gewollte: Das „unaussprechliche Enigma“⁶, das die Figuren verkörpern, ist letztendlich die Fähigkeit, bei sich zu sein, ganz dem Augenblick hingegeben, sogar vom Betrachterblick unbehelligt. In diesem einen Moment findet das Leben statt, realisiert es sich – erst die Summe dieser bewusst gelebten Augenblicke wird dereinst das entstehen lassen, was im Gedächtnis bleibt vom eigenen Leben: „Denn das Gedächtnis, indem es die Vergangenheit in unveränderter Gestalt in die Gegenwart einführt - so nämlich, wie sie sich in dem Augenblick präsentierte, als sie selber noch Gegenwart war - bringt gerade jene große Dimension der Zeit zum Verschwinden, in der das Leben sich realisiert.“⁷
Dr. Sonja Lechner M.A.
Kunsthistorikerin
1 Brief an Andreas Mäckler vom 29. März 2000, zit. nach: Mäckler, Andreas (Hg.): 1460 Antworten auf die Frage: was ist Kunst? Köln 2003, S. 26.
2 „Soli omnium otiosi sunt qui sapientiae vacant, soli vivunt.“ (Brev. vitae XIV I).
3 Seneca etwa rief auf zu „otium“, statt sich dem „iners negotium“ hinzugeben: „Non habent isti otium sed iners negotium.“ (Derartige Menschen haben keine Muße, sondern müßige Beschäftigung, Brev. Vitae XII 4).
4 Warnecke, Siegmar: Iris von Carnap – Sublime at Second Sight, Gutachten vom 31.07.2013.
5 Von Naso, Rüdiger: Iris von Carnap, Madame.
6 Warnecke, Siegmar: Iris von Carnap – Sublime at Second Sight, Gutachten vom 31.07.2013.
7 Proust, Marcel: Auf der Suche nach der verlorenen Zeit 1-3. Frankfurt/M. 2000, S. 4172.